Katrin KRAUSE

Taxidermia Claustrophobia

Lesedauer ~5 Minuten

I.

Dass sein Berufszweig keine große Zukunft haben würde, wusste Leopold Gusthardt bereits während seiner dreijährigen Ausbildung. Dass die Leute Präparatoren für seltsam halten, wusste er auch. Schließlich hatte er bemerkt, wie schon Großvater Gusthardt von den Leuten aus ganz Kyllburg und sogar noch von einigen aus Nattenheim gemieden wurde.

Aber Opa Gusthardt machte das nichts: "Nattenheim, Nattenheim, wo die fetten Weiber sein", witzelte er manchmal, wenn Leopolds Mutter sich wieder über den kauzigen Alten beschwerte und darüber, dass die Leute sich die Mäuler über ihn zerrissen.

Leopolds Mutter war es immer wichtig gewesen, was die Leute redeten. Sie sah sich gern durch fremde Augen, am liebsten von unten, und was sie da sah, gefiel ihr gut. Sie war fromm und gewissenhaft, hatte stets ein offenes Ohr für die Kinder und die Gemeinde, ließ nie einen Gottesdienst aus und ihre Schmorfleischpasteten waren in aller Munde.

Aber Leopold war nicht wie seine Mutter. Er war nicht gut darin, mit Menschen zu reden. Immer sagte er das Falsche, und das blieb nicht unbemerkt. Vor allem die Mädchen aus seiner Klasse witzelten hinter seinem Rücken über seine merkwürdigen und fremd klingenden Worte.

Dabei gab er sich alle Mühe gut zu sprechen. Versuchte sich einzuprägen, wie Sprichwörter richtig lauteten, wo zum Beispiel der frühe Vogel wartet und welche Frucht vom Stamm nicht weit fällt. Er hörte stundenlang Eifelradio, um nachzumachen, wie man die schwierigsten Worte betonte. Doch was als  Eigentümlichkeit begann, wurde bald zu einem Stottern und schließlich zu Schweigen. Er zog sich zurück. Die anderen Kinder verstanden ihn nicht und er verstand sie nicht.

"Mach dir nichts aus den Hohlköpfen", hatte sein Opa an einem langen, dunklen Winternachmittag gesagt. Dann trank er die letzte, kalte Pfütze Kakao und schnitt das tote Wiesel auf.

"Sie sagen zu mir Pumpernickel, Leo der Trampel und Bauernpold."

Opa Gusthardt zog dem länglichen Tier das Fell ab und war versunken. Er schien nicht mehr anwesend zu sein. Die Pause hallte in dem dunkelsten aller Kellerräume, und die Stille, in der man Messer durch Haut knacken hören konnte, wurde vom dunkeln Nussbaumfurnier zurückgeworfen. 

"Ich will mehr wie die sein. Warum bin ich so? Toni von gegenüber war mein Freund. Jetzt lacht er mit den anderen über mich."

"Das wird schon", sagte der Alte, nahm das abgebalgte rosa Fleisch und warf es in die Eisentonne. Ein ganz eigenes Tier irgendwie. Ein Urwiesel. Ein komisches Fleischstück, das anders war und sich nicht schämte. Wieso sollte es auch.

Jetzt folgte Leopolds liebste Arbeit: das Ausstopfen. Material sanft in die weiche Haut drücken. Spüren, wo sie nachgibt und wo sie sich dem Druck seiner Finger widersetzt. Neues Leben formen aus Drähten. An diesem Tisch bestimmten nur Leopold und Heinrich, wie dieses neue Leben aussehen würde. Zwei heimliche Schöpfer im Formaldehydnebel. Niemand sonst tat sowas in seinem Kellerraum. Das konnten nur die Gusthardt-Männer. Und es fühlte sich toll an.

II.

Als Leopold heute den winzigen Kellerraum seines Arbeitsplatzes betrat, ergriff ihn ein Anflug von Schwindel. Es war, als hätte etwas in der Dunkelheit auf ihn gewartet. Etwas altes. Etwas von früher. Das ganze Wochenende hatte es gewartet, wie ein gefährlicher Hund. Und jetzt nahm es Besitz von ihm, überwältigte ihn. Die Neonröhren flackerten altersschwach. Sämtliche Zuschussgelder der letzten Jahre hatte das Zoologische Forschungsmuseum Alexander König in Prestigeräume gesteckt. Das Foyer. Das Café im dritten Stock. Sogar der Souvenirshop strahlte in modernem  Minimalismus und sauberglatten Weißflächen. Nur im Präparationsraum hielten sich seit den Siebzigern die Farben des Verwesens: Ockerbraun, Matschgelb, Gammelgrün.

Leopold nahm die Kiste mit dem zu präparierenden Edelfasan. Phasanius colchicus. Ein schönes Tier. Doch schon beim Erfassen der Daten stolperte etwas in Leopolds Organen. Es war einer dieser Aussetzer, die nicht genau lokalisierbar sind. Man meint, es ist ein Holpern im Herz, dabei ist es nur ein Stechen in der Lunge oder ein Rumpeln im Magen. Man macht sich besser erstmal keine Sorgen und behält es für sich. Was sollten denn die Leute denken.

Dann der Schnitt. Wie das Aufreißen von Stoff. Tote Haut öffnet sich immer mit dem gleichen Ton. Leopold begann zu schwitzen.

Als er versuchte, die Haut abzubalgen und das fleischige Innere rauszuholen, bemerkte er, wie seine Atmung flach wurde. Meinte er das nur oder begann der Vogel furchtbar zu stinken? Der Gestank wurde so schlimm, dass Leopold einen Schritt zurücktreten musste, aber es war einfach nicht genug Luft im Raum, um diesem Gestank zu entkommen. Dann wieder ein Holpern. War das ein Herzinfarkt? Bei seinem Großvater damals, das ging ganz schnell. Leopold fragte sich, ob er sterben würde oder sich einfach nur eine Runde bewegen musste. Es war ihm, als hörte er Stimmen. Kinderstimmen. Was riefen die?

"Ach was", dachte er. 

"Besser nicht hinhören. Wer hinhört, wird verrückt."

Er lief um den Tisch und stieß an ein anderes Präparat. Ein Nordluchs. Lynx lynx. "Vermutlich die letzten Augen in die ich sehen werde", dachte Leopold und bedauerte, dass das Tier tot war. Der rettende Einfall kam ihm beim Blick auf das helle Fasanenfleisch.

"Die anderen. Ich muss den anderen Bescheid sagen. Ich brauche eine Vertretung."

Beim Aufschließen der schweren Tür ergriff Leopold das Sterben in Wellen. Das Treppensteigen war ein Wanken. Nur raus aus diesem Keller. Im Foyer waren Leute.

"Guten Morgen, Herr Gusthardt", sagte das blonde Mädchen an der Rezeption. Sie war Kunststudentin, das wusste Leopold.

"Kann ich Ihnen helfen?"

Leopold überlegte. Er wusste keine angemessene Antwort. Nichts, was nicht merkwürdig klingen würde, also sagte er nur:

"Ach nein, ich muss mir nur ein wenig die Beine vertreten."

 

Katrin KRAUSE wollte als Jugendliche unbedingt Gerichtsmedizinerin werden. Weil sie dafür aber viel zu zart besaitet war, schreibt sie jetzt lieber Kurzgeschichten. Immerhin wird da auch manchmal etwas aufgeschnitten.

Dieser Text erscheint online als Teil des GYM#2. Die Printausgabe mit weiteren Texten erscheint am 1. Mai 2021.

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