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Montag, Yogaschulen-Tag. Ein Twitter-Reminder poppt auf: Montag braucht nicht deine Liebe, nur deine Arbeitskraft. Sie wischt die App weg, drückt sich die kleinen weißen Stöpsel ins Ohr und startet ihre Workout-Compilation auf Spotify. Prekäre Arbeit fühlt sich besser an, wenn man sie als Fitnesslüge verpackt. Mal Two Step, mal Kraftklub – je nachdem, welcher Takt und welche Lyrics zur Stimmung passen. In der Jogginghose verstaut sie schwarze Plastikhandschuhe; zum Wechseln, wenn sich die Alkalien bis in die Nagelhäute brennen. Das eiskalte Wasser, gezapft neben dem kleinen Kabuff in der Einfahrt, rauscht unberechenbar in dunkelgraue Eimer. Die Nikes sind jetzt schon durch. Eimer vollmachen, die lagunenblaue Chemie reinkippen, Lappen dazu, Wischer und Besen schnappen. Drei Häuser, zwei Hofeinfahrten, insgesamt vierzehn Stockwerke, circa drei Millionen Stufen. Zuerst das Yogahaus. Es gehört zu einem denkmalgeschützten Ensemble mit Gründerzeit-Aura und lehnt an einer Baustelle, die hinter modernen Fassaden Büros für 40 Euro den Quadratmeter entstehen lässt. Die unsanierte Wohnung im Wedding kann sie sich gerade noch leisten. Denn auch „der Wedding kommt!“, wie erst heute Morgen wieder im U-Bahn-TV verkündet wurde.
Beim Treppenwischen ist der Baustaub allgegenwärtig. Und das dazugehörige Bohren, Schleifen, Hämmern, Piepen. Irgendwo auch immer eine Steinsäge. Wie motorisierte Freddy-Krueger-Krallen, die über eine riesige Tafel scheuern, oder besser: sich in sie reinfressen. Selbst mit Musik in den Ohren hört man das gewaltsame Rauschen. Dass das Meer die größte Staubquelle der Erde sein soll, hat sie mal gelesen. Dass sich selbst im europäischen Großstadtstaub Sandkörner aus der Sahara finden lassen, stand da ebenfalls. Hier herrscht jedenfalls Wüstenleere. Keine Büroangestellten mehr. Auch die Touristen, die sonst mit Smartphones und Selfie-Stangen durch die Höfe laufen, sind weg. Die Straßen gehören jetzt dem Proletariat. Baustellen, Gebäudereinigung, Supermarktkassen, Lieferdienste, Krankenhausetagen laufen auf Hochtouren. Man sollte doch froh sein. Zumindest Mindestlohn. Zumindest kein Teil einer entmenschlichenden Arbeitslosenverwaltungsmaschinerie werden. So bleibt sie ein kleines Rädchen im großen Tätigkeitsgetriebe, das niemals zum Stillstand kommt.
Der Staub im Yogaschulen-Treppenhaus ist resilient. Selbst jetzt, wo sich gerade keine sportlichen, schönen Menschen an ihren Wischutensilien vorbeibalancieren. Manchmal grüßt dann jemand oder sagt danke oder schön dass Sie sauber machen. Wisching for Compliments. Die meiste Zeit wird sie nicht wahrgenommen, ist nur ein weiteres Reinigungsutensil. Wie ein Ding. Sich verdingen – da steckt es ja schon drin.
Auch jetzt, immer noch. Jede Woche die gleiche dicke Schicht Flusenknäuel, gespickt mit Yogi-Haaren und Epidermispartikeln. Dass Staub aus einer nicht unwesentlichen Menge Hautschuppen besteht, weiß sie auch. Sie ist ein waschechter Staub- und Dreckexperte geworden. Den Ekel hat sie abgelegt, hat ungeahnte Widerstandskräfte entwickelt. Selbst beim dünnflüssigen Scheißhaufen auf der obersten Etage. Partymacher oder Obdachloser? Undifferenzierbar vom Alkoholschiss-Pegel her. In der Mittagspause die Zigarette mit dem Branchenkollegen aus dem Nachbarhof. Ralf, 42, schiefe Augen, redselig, hat Hipster zum persönlichen Feindbild deklariert. Er hat so viel Sprüche über partytrunkene Wohlstandskinder drauf, wie Wutbürger Merkel-Hasstiraden aufsagen können. Sie zieht stumm an ihrer Kippe. Muss jetzt los, sagt sie, wenn sie aufgeraucht haben. Genau das mag sie an dem Job. Das nicht viel reden müssen. Das Unverbindliche, das Anonyme. Aber jetzt hat sie Ralf seit Wochen nicht mehr gesehen und vermisst ihn irgendwie. Ob Corona daran schuld ist, fragt sie sich, als sie die Bierflaschen aus Hof 2 einsammelt. Party wird immer noch gemacht, natürlich nicht mit Corona, sondern mit Craft Beer aus einer Kreuzberger Mikrobrauerei. Dass sie vom Burnout hierher getrieben wurde, wie ein Staubkorn aus der Bürohölle, erzählt sie weder Ralf noch anderen.
Freitag, aka was heißt das schon. Egal an welcher Sprosse der Karriereleiter sie sich gerade hochhangelt, die Aussichten bleiben gleich. Ärmel hochkrempeln und rauf auf den Tretmühlen-Stepper. Ein ständiger Wettlauf. Irgendwann wird das Stufensteigen schon zu was führen. Spät abends sitzt sie wie immer vor dem Laptop. Die Kinder schlafen. Freiberuflichkeit my ass. Frei ist keiner. Auch nach dem Outsourcing aus der Festanstellung bleibt sie verbindliche Befehlsempfängerin im Überstundenmodus, die keine Aufgabe ablehnen darf. Ein Balanceakt: Den Wohlstand halten, ohne den Verstand zu verlieren. Sie malocht für unterschiedliche Agenturen, die allesamt das gleiche Paket bei ihr buchen: Höchste Leistung, schnellste Lieferung, Kreativität und Enthusiasmus auf Knopfdruck. Viel Druck. Und wer weiß, wie viele outgesourcte Festanstellungen sie damit schon ersetzt hat.
Gerade müht sie sich an einem neuen Kunden ab. Ein Dating-App Anbieter, der Budget hat. Halleluja. Alle Vermarktungskanäle sollen ausgeschöpft werden. Influencer sind besonders voll mega wichtig. Influencer sind picky und teuer. Influencer klingen wie die Grippe. Keine Pandemie kann ihnen etwas anhaben.
Ein Soap-Darsteller dessen Namen ihr überhaupt nichts sagt, bekommt 20.000 Euro fürs Lügen. Sie soll zielgruppengerecht, glaubhaft und verdammt nochmal viral verpacken, dass er angeblich seine neue Freundin über diese – genau diese! – App kennengelernt hat. Pressemitteilung: It’s a Match! Was man nicht alles mit einem Literaturstudium anfangen kann. Viel hat sie gelernt. Zum Beispiel, dass Auberginen beim Chatten für Penisse stehen. Dass mehr Leute die Merkel-Lookalike-Suchfunktion nutzen, als man meinen könnte. Im Hintergrund läuft das Zählen. Arbeitsstunden. Rechnungsnummern. Die Tage bis zur Abbuchung der nächsten Miete. Die letzten Euros der staatlichen Corona-Hilfszahlung für Selbständige.
Mit ihren verbliebenen Idealen ist sie eine On-Off-Beziehung eingegangen. Manchmal arbeitet sie noch an ihren persönlichen Zielen, glaubt an sich und an das mal-anders-und-besser-machen. Schließlich will man doch Vorbild sein. Es gibt ja viel zu tun, auch außerhalb viraler Ausnahmezustände und Google Docs. Klimawandel, Gesellschaftsheilung, Weltrettung. Und was machst du so, Single-Mama? Belangloses. Alles andere als systemrelevant. Und doch höchstrelevant für unser System, Baby. Keine Zeit für existenzielles Hinterfragen, wenn die Existenzsicherung beantwortet werden muss.
„Haben wir noch was outstanding?“, steht in der neu eingetroffenen Mail. Ihre Finger sind taub. Sie kann nicht antworten. Und wenn doch, will sie etwas anderes schreiben. Dass sie eine Auszeit braucht. Dringend. Bevor sie wieder in die Depression schlittert. The Great Depression. Beim letzten Mal hat sie sich mit einer Notlüge retten können. Dass ein banaler grippaler Infekt daran schuld sei, dass sie nicht aus dem Bett kommt. 20.000 Euro wollte ihr niemand dafür zahlen.
„RE: Ready to rock?!“, schrieb der Auftraggeber und war hocherfreut, dass sie sich nach kurzem Kranksein sogleich wieder gemeldet hatte und sich an die Ausarbeitung der hochwichtigen Präsentation machen würde. ASAP! Das Nicht-Funktionieren kann sie sich nicht mehr leisten. Da ist die Verantwortung für die Kleinen größer als das große Ganze. Homeoffice, Homeschooling, Hausfrauendasein. Krankwerden ist das letzte, was passieren darf.
„Mein Dienst ist lächerlich und kläglich leicht – ich weiß nicht, wofür ich das Geld bekomme.“ Ein Kafka-Reminder. Seine berufliche Selbstbeschreibung; in einem Brief über seine verhasste Tätigkeit als Versicherungsbeamter. Früher hat sie gerne gelesen. Und geschrieben. Sie schreibt immer noch. Aber leicht? Nein, leicht fällt es ihr nicht. Geld bekommen, ja. Das Zählen geht wieder los. Im Hintergrund. Da fallen die Augen langsam zu, aber der Bildschirm bleibt immer aufgeklappt.
Inga KNÖRIG (*1984, Berlin) versucht sich am Lifestyle einer verrückten Katzenlady, ist ungekrönte Streaming-Queen und macht seit Beendigung ihres Studiums irgendwas mit Internet. Seit 2020 widmet sie sich dem literarischen Schreiben.
Dieser Text erscheint online als Teil des GYM#2. Die Printausgabe mit weiteren Texten erscheint am 1. Mai 2021.