Patrick RICHTER

Toxicity

Lesedauer ~5 Minuten

„Nehmen Sie bitte Platz, ich bin sofort bei Ihnen“, sagt er, ohne den Blick vom Bildschirm zu heben. Die Bewerberin nimmt Platz. Sie ist nervös.

Er schreibt noch schnell die Mail fertig, ohne Anrede, kein Bitte, nur, was er will, er hat keine Zeit für Höflichkeit, zu viel Druck, harte Zeiten. Senden. Er will aufstehen, die Bewerberin begrüßen, sieht die Antwort seines Mitarbeiter auf die Mail aufpoppen: ‚Welche Datei meinst du? VG.‘ Er klickt auf Anruf, der Mitarbeiter geht sofort ran. „Ich meine die Datei mit der Berechnung für den Forecast.“ Kurze Stille. „Die Datei ist aber falsch, die Zahlen stimmen nicht.“ Er atmet kurz durch, möchte das Telefonat schnell beenden, versteht das Problem nicht. „Warum hast du die falschen Zahlen genommen?“ Der Mitarbeiter antwortet halb eingeschüchtert, halb genervt: „Weil HR nichts geschickt hat, wie immer.“ Er muss das Telefonat beenden, hat keine Geduld mehr! „Dann hak nochmal nach und mach Druck. Das muss bis zwölf raus, egal wie. Danke dir!“ Er legt auf, seine Armbanduhr zeigt 11:30 Uhr, er hat Hunger.

Endlich wendet er sich der Bewerberin zu: „Entschuldigen Sie, heute ist alles etwas stressig. Stellen Sie sich doch bitte kurz vor.“ Er lässt sie sprechen, schaut sich den Lebenslauf zum ersten Mal an; Sie ist 26, Juristin mit Prädikat, wie alle, aber ihre Adresse kommt ihm seltsam vor. Er holt sein Smartphone raus, googelt, vermutet eine der Siedlungen. Sie wirkt irritiert, redet aber weiter. Google findet nichts, er fragt einfach nach ihrem Wohnort. „Ich wohne zusammen mit meinen Eltern in der grünen Siedlung nördlich der Stadt.“ Er fragt, ob sie das Leben in der Selbstversorger-Siedlung mit dem Job bei einem Automobilhersteller vereinbaren könnte. Er kennt die Antwort schon, weiß, dass sie lügen wird, hört bei der Antwort nicht mehr hin, nimmt wieder das Smartphone, schreibt eine Mail an die HR-Tante: ,Wer ist die jüngste Bewerberin?‘ Senden. Sie erzählt von ihrem Studium, er hört nicht hin. Die HR-Tante antwortet: ‚Welche Stelle? LG.‘ Er fragt sie nach ihrer Motivation für das Unternehmen, hört sofort weg, antwortet lieber der HR-Tante ‚Die Juristen-Stelle, wo Legal Tech nicht möglich war.‘ Senden. Sie erzählt von ihren Erfahrungen im Referendariat, bemerkt seine geistige Abwesenheit, zeigt Anzeichen von Nervosität, spricht weiter.

Es ist 12:00 Uhr, der Mitarbeiter zuckt mit den Schultern und verschickt die Datei mit den falschen Zahlen.

Er drückt ihr die Hand, etwas zu fest. „Hat mich sehr gefreut, wir melden uns dann bei Ihnen.“ Er verabschiedet sie, schließt die Tür, setzt sich an seinen Schreibtisch. Er sieht die Antwort der HR-Tante; die Bewerberin war die jüngste. Er wird ihr den Job geben, er braucht jemanden, der tut was er sagt, jemanden der noch Respekt hat!

Er ruft die HR-Tante über Skype an, keine Antwort. Er sieht die Mail des Mitarbeiters. Der Controller hat schon geantwortet. ‚Bitte die Zahlen der Personalplanung bis 16:00 Uhr korrigieren, so können wir das für den Forecast nicht nehmen, Beste Grüße.‘ Er verflucht den Mitarbeiter und den Controller. Er will seine Ziele erreichen, will den Bonus! Eine Push-Mitteilung: die Aktien fallen. Er schaut auf die untere rechte Ecke des Bildschirms; 12:23 Uhr, er hat Hunger.

Die HR-Tante ruft an, er begrüßt sie nicht, schießt gleich los: „Du kannst sie einstellen aber vergiss nicht, sie innerhalb der Probezeit wieder zu kündigen.“ Er hat kein Budget für die Stelle, darf sich nicht an Personal binden, lieber jedes halbe Jahr neue Mitarbeiter einstellen. „Wen soll ich einstellen?“ kommt es von der HR-Tante. „Na die Bewerberin von gerade!“ Entgegnet er wie selbstverständlich. „Ich weiß doch nicht, mit wem du gerade gesprochen hast, meinst du die junge?“ Der Assistent des CEO platzt in sein Büro: „Außerordentliche Sitzung im Boardroom, hast du die Einladung nicht gesehen?“ Er antwortet der HR-Tante nicht, legt einfach auf. Er schaut zur Wand: 12:35 Uhr, er hat Hunger. 

Alle Vorstandsmitglieder sitzen schon, er ist der letzte. Der großgewachsene CEO sitzt breitbeinig am Kopfende. Alle reden über den stark fallenden Aktienkurs, er weiß nicht was passiert ist, schaut auf sein Smartphone, sieht die Schlagzeilen, ist verwirrt. Irgendeine junge Öko-Aktivistin ist tot. Überfahren ausgerechnet von einem Luxus-SUV mit Biturbo-Diesel aus dem Konzernsortiment. Hintergründe unklar, politisches Motiv wird vermutet. Der CEO hat sich in Rage geredet, ist sauer auf die Vorstandsmitglieder, will mehr Leistung! Die Vorstandsmitglieder sind empört über die Reaktion des Marktes. „Das alles nur wegen dieser weltfremden Klima-Aktivistin“, murmelt ein alter Vorstandskollege vor sich hin. „Wir müssen Nachhaltigkeit noch mehr in den Vordergrund stellen!“, kommt es fast verzweifelt vom CEO. Es ist 13:17 Uhr, er hat Hunger.

Die Sitzung ist beendet, entschieden wurde nichts. Er steht auf, will in die Kantine. Der CEO spricht ihn an: „Kommst du noch kurz in mein Büro?“ Er folgt ihm, ungern.

„Hör zu, du weißt, dass ich dich als Mensch sehr schätze. Deine Leistung ist aber nicht mehr tragbar, deine Führungskräfte stehen auch nicht mehr zu dir. Harte Zeiten für die Branche, das weißt du selbst. Wir müssen dich bis zum Quartalsende freistellen.“ Er versteht nicht ganz, fragt nach, ob er danach wiederkommen soll. Der CEO seufzt, schüttelt den Kopf. „Du kennst die Regeln, du hast 15 Minuten, bitte gib dein Handy und deinen Dienstwagen ab, es tut mir leid.“ Er versteht, gibt das Handy und den Laptop ab, folgt dem Sicherheitsmann in die Tiefgarage, holt seine Sachen aus dem Wagen, gibt die Schlüssel ab, der Sicherheitsmann begleitet ihn bis zur Besucheranmeldung und verabschiedet sich sehr höflich. Er steht draußen auf dem Parkplatz, wo die normalen Mitarbeiter parken. Niemand erkennt ihn.

Die Uhr über dem Werkstor zeigt 14:05 Uhr, er hat keinen Hunger mehr.

Patrick Richter (*1990), als Jurist in der Arbeitspolitik eines großen Unternehmens im süddeutschen Raum tätig, möchte mit seinen Texten auf die moralischen und kulturellen Schieflagen in deutschen Unternehmen aufmerksam machen. Die veröffentlichte Geschichte beruht auf einer Begebenheit, die sich so oder so ähnlich abgespielt hat. 

Dieser Text erscheint online als Teil des GYM#2. Die Printausgabe mit weiteren Texten erscheint am 1. Mai 2021.

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