Amelie BEFELDT

Freie Berufe

Lesedauer ~7 Minuten

Eigentlich arbeite ich gerade, tatsächlich aber habe ich soeben vier Jutebeutel und fünf Kilo Kartoffeln vor der Tür meiner Freundin abgestellt. Sie hat Corona und sonst niemanden. Jetzt bin ich auf dem Rückweg zu meinem Schreibtisch und denke, dass sich mein Stundenlohn ja im Grunde eh aus Geld plus Freiheit zusammensetzt. Denn wäre ich nicht selbstständig, könnte ich nicht für meine Freundin einkaufen gehen. Ich genieße den Gedanken solange, bis er hakt - einkaufen kann man auch nach 18 Uhr, oder wann auch immer regulär Angestellte Feierabend haben. Ich bin enttäuscht, es hätte so schön sein können. Jetzt muss ich doch irgendwann höhere Stundensätze raushandeln. Dann schaltet eine Ampel auf rot und ich bremse etwas zu spät ab. Mein Fahrrad schlittert, jemand hupt, nichts passiert. Was gut ist, denn meine Freundin hat Corona und ich habe doch sonst niemanden. Zumindest nicht hier, in dieser Stadt, in diesem Bundesland. Und meine Mutter ist durch mit Care Work, davon abgesehen hat sie selbst einen Job, einen festen, einen, dem sie nicht kurz davonfahren kann. 

Ich steige vom Rad und schiebe. Sicher ist sicher und krank sein nur teuer. Für meinen Vater ist es sogar ganz unmöglich. Er ist Workaholic, ohne den Begriff zu kennen. Jemand, für den Freizeit bedeutet, einen Trecker zu reparieren. Einer, für den Karriere ein leeres Wort ist. Zumindest für ihn selbst. Mir wünscht er gleich eine große, macht Witze über Hollywood und fordert 10% Beteiligung. „Wie kommst du auf 10%?“, fragte ich ihn zuletzt, als er blind auf der Couch lag und sich nicht anstrengen durfte. Laser-OP, Grauer Star, kein großer Eingriff. Routine für die Ärzte, Katastrophe für meinen Vater. Die Landwirtschaftskammer schickte einen Betriebshelfer, meine Schwester und ich zeigten ihm den Hof. Wir waren auch da. Merle hatte Urlaub genommen, ich meinen Laptop und Festplatten. Denn es dauerte bis zum Tag der Operation, dass uns jemand Bescheid gab, ob mein Vater nun Unterstützung bekam oder nicht. Die Landwirtschaftskammer traf keine Schuld. Jedenfalls nicht die verantwortliche Sachbearbeiterin, sie war großartig und wütend, genau wie mein Vater. Nur waren ihr die Hände gebunden wie ihm jetzt die Augen. „Was soll ich machen, Herr Jeske? Wenn ich einen Betriebshelfer backen könnte, glauben Sie’s mir, ich würde es tun.“ 

Wir lernten: Betriebshelfer ist ein Beruf, den keiner machen will. Wir lernten: die großen Höfe haben Angestellte dafür, die Kleinen einfach Pech. Das heißt: meine Schwester und ich lernten das, mein Vater wusste das alles schon. 

Vorgesorgt hatte er trotzdem nicht. „Wie auch“, verteidigte er sich wütend. „Es geht eben immer so lange gut, bis es nicht mehr gut geht. Und selbst dann ändert sich nichts.“ Auch nichts neues. Ruhiger wurde er trotzdem nicht. Im Gegenteil. „Wofür zahle ich denn Beiträge, verdammt?“, brüllte er und wir ließen ihn brüllen, in der Hoffnung, dass er sich ausbrüllen und nach der OP einen niedrigen Augendruck sowie vertretbaren Puls behalten würde. 

Der Betriebshelfer fand sich schnell bei uns zurecht. Er war freundlich, erzählte gern von seiner Arbeit auf anderen Höfen und aß artig alles, was ich ihm vor die Nase setzte. Groß kochen wollte ich nicht. Ich fand, dass es genug war, ihm morgens beim Melken zu helfen, damit es schneller ging und etwas von seinem Stundenkontingent für die vielen anderen Dinge übrig blieb. In der ersten Woche fühlte ich mich richtig gut damit. Es störte mich nicht, dass ich nicht arbeiten konnte, weil mir der Vormittag fehlte – die produktivste Zeit meines Tages. Erst in Woche zwei setze Frustration ein. Was ist mit mir? Ich habe auch ein Leben, dachte ich und meinte meinen Job. Also hörte ich auf, morgens mit raus zu gehen, wärmte zum Mittag nur etwas aus der Gefriertruhe auf und saß mit schlechtem Gewissen am Rechner. Den Betriebshelfer versuchte ich so gut es ging zu meiden. Er hatte nicht um meine Hilfe gebeten, ich machte mir trotzdem Vorwürfe. Merle, die schon nach wenigen Tagen wieder abreisen musste, wollte davon nichts hören. „Er wird dafür bezahlt, du nicht. Sei nicht dumm. Und schau dir mal die Stellenausschreibung an, die ich dir gleich schicke“, sagte sie am Telefon, woraufhin ich seufzte und klarstellte, dass es überhaupt nicht ums Geld ging. Was auf ihre Belehrung folgte, ignorierte ich demonstrativ. Merle hielt mich für durchweg bescheuert, mich nicht einfach irgendwo als irgendwas anstellen zu lassen. „Willst du wirklich so werden wie Papa?“, fragte sie mich gern, weil sie wusste, dass ich darauf keine Antwort hatte. Diesmal ersparte sie mir die Frage und ging zu unverfänglicheren Themen über: Sie hatte jetzt Katzen. 

Am Abendbrottisch war ich mit meinem Vater allein, der Betriebshelfer längst weg. Ein Acht-Stunden-Tag ist kurz, wenn davon anderthalb für Hin- und Rückfahrt drauf gehen. „Merle macht es schon wieder“, sagte ich. „Was macht sie schon wieder“, fragte mein Vater, abwesend an seinem Schinken-Käse-Brot kauend. „Jobangebote schicken.“ Mein Vater blickte mich kurz an, begriff nichts und stand dann auf, um sich Ketchup zu holen. Beim Blick in den Kühlschrank verstand er dann doch noch, was ich meinte. „Achso“, sagte er ins Gemüsefach. „Das meinst du. Naja. Musst ja nicht drauf reagieren. Also, so seh’ ich das.“ Er kramte weiter zwischen den Tupperdosen. Ich bekam Mitleid und deutete auf die Flasche vor mir. „Papa. Ketchup steht auf dem Tisch.“ 

Am nächsten Tag molk der Betriebshelfer eine Kuh in den Tank, deren Milch in den Eimer gehört hätte. Ich bemerkte es zufällig. Während der Helfer am Handy hing und klärte, ob die Versicherung einspringen würde, übernahm ich die Aufgabe, die Arbeit von zwei Tagen in den Gulli laufen zu lassen. Auch danach blieb mir wenig Zeit, mich über Merle zu ärgern, die mir ständig einen ‘richtigen’ Job vermitteln wollte. Denn mein Vater stand nun wieder selbst im Stall. Damit übersprang er vier Tage Schonzeit, riskierte, Staub und Wasser ins Auge zu bekommen und daran zu erblinden. Ich nannte ihn abwechselnd Trottel und Idiot und versuchte, ihn wenigstens von Merles alter Skibrille zu überzeugen. Ich gab erst auf, als er mich anschrie, ich solle mich um meinen eigenen Scheiß kümmern, sonst sähe er nämlich schwarz. Die Ironie dieser Worte schien ihm völlig zu entgehen, denn nur ich lachte. Wir sprachen erst am nächsten Tag wieder miteinander.

Mein Vater erklärte mir, dass er nicht zum ersten Mal mit einer Verletzung melken ging und es nach 42 Jahren erst recht egal wäre. Eigentlich wollte er sagen, dass er es beängstigender fand, auf der Couch zu liegen und nichts zu tun, als die Möglichkeit, sein Augenlicht zu verlieren. Erschrocken stellte ich fest, dass ich verstand, was er meinte, entschuldigte mich dafür, ihn einen Idioten genannt zu haben und wies darauf hin, dass seine Augen nur schwer mit einem gebrochenen Fuß vergleichbar waren. Womit ich meinerseits versuchte zu sagen, dass ich ihn einfach nur hatte beschützen wollen und er sich doch nicht völlig von der Arbeit zerstören lassen musste. Dabei dachte ich auch an meine Mutter, die irgendwann gegangen war, weil sie es nicht mehr mit ansehen konnte. Auch sie hatte ihn beschützen wollen. All das sagten wir uns jedoch nicht laut, das war nicht nötig. Wir kennen uns. 

Er ist dann glücklicherweise nicht erblindet. Jetzt, ein paar Monate später – ich gehe noch immer neben meinem Fahrrad her – schaue ich auf mein Handy und weiß, dass mein Vater in einer Stunde die Kühe füttern wird. Ich rufe ihn an, er sitzt gerade auf dem Trecker. „Na, haste nichts zu tun?“, fragt er und weiß, wie gut er mich damit ärgern kann. „Doch. Eine Menge. Ich wollte nur kurz hören, wies dir geht.“ Er klopft seine üblichen Sprüche plus ein paar neue zum Thema Corona. Ich erzähle ihm von meiner Freundin und bitte ihn, vorsichtig zu sein. „Weil, überleg mal – jetzt wird es noch weniger Betriebshelfer geben also sonst, Papa.“ Er brummt und will stattdessen von mir wissen, ob ich mal wieder was von Merle gehört habe. Ich verneine, in letzter Zeit hat sie mir keine Stellenanzeigen weitergeleitet. „Warum?“, frage ich zurück. „Nur so“, sagt er. „Papa!“, ermahne ich ihn. „Ach, sie hat mir da neulich auch mal was geschickt. Für dich. Das klang eigentlich ganz sinnvoll.“ Ich kann es nicht fassen. „Was ist los mit dir? Wirst du alt? Was ist mit ‘der eigene Chef sein’ und ‘besser man ärgert sich über sich selbst als über andere‘?“ Er antwortet nicht. Einen Moment lang höre ich nur die Geräusche des Treckers. „Das stimmt ja auch noch“, sagt er schließlich. „Nur hat das andere auch Vorteile. Merle kriegt jetzt sogar den passenden Stuhl für ihr Home Office.“ Ich seufze. „Ich brauche keinen Stuhl. Ich habe diesen hervorragenden Sitzball.“ „Und wenn du krank wirst?“ „Der Sitzball beugt Rückenproblemen vor.“ „Und wenn es nicht mehr läuft?“ „Dann habe ich diese hervorragende Familie”, sage ich. 

Amelie Befeldt (*1990) ist Autorin und Editorin. Neben Fernsehbeiträgen schreibt sie auch Prosatexte und arbeitet nach einem Fotografie- und Medienkunststudium seit 2020 freiberuflich für verschiedene Produktionsfirmen. Der kürzlich fertiggestellte Dokumentarfilm „Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ ist ihr Kurzfilmdebüt.

Dieser Text ist Teil der Online-Ausgabe des zweiten GYM. Die Printausgabe mit weiteren Texten zum Thema ARBEIT erscheint am 01.05.2021

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