Stefan EWALD

Die Perversen

Lesedauer ~6 Minuten

Wieder dieser rote Morgenmantel mit den vielen kleinen Musiknoten darauf; sein leicht schunkelnder Gang und die kraftlos hängenden Arme. Er marschierte durch den Matsch direkt auf mich zu. Wir dürfen uns nicht mehr das Zimmer teilen, dachte ich. Keine weitere Nacht mehr. Es gab seit dem Vorfall mit Jonas Kerschke und während meines Aufenthalts in W. nichts, was mein Denken so sehr beherrschte wie Uwe. Er nahm alles für sich in Anspruch, alles. Allein mit seiner lästigen Art. Vor allem das gemeinsame Zimmer, und dann, auf noch penetrantere Weise, mein empfindliches Denken.

Obwohl Uwe mich ausfindig gemacht hatte, änderte ich meine Richtung nicht, sondern lief weiter am gerade so begehbaren rechten Rand des schlammigen Weges entlang, der von der einen Seite der Parkanlage zur anderen Seite führte und eine insgesamt überschaubare Spazierstrecke ergab. Uwe ist ein Unglück für meine Gesundheit, dachte ich. Uwe nimmt mir den Raum, den ich brauche, um wieder gesund zu werden. Menschen wie Uwe sind der Grund dafür, weshalb ich gezwungen bin, nun durch diese sumpfige Parkanlage in W. zu spazieren. Er begrüßte mich nicht, sondern folgte mir unaufgefordert im Gänsemarsch. Weiter vor uns trottete ein offensichtlich verwirrter Mann vor sich hin, den das Personal Urbaschek nannte. Ich hörte, wie Herr Urbaschek etwas Unverständliches brabbelte und war gerade dabei zu überlegen, was  er gemeint haben könnte, da begann Uwe mit seinem Gerede, attackierte meine Gedanken über Herrn Urbaschek so lange mit äußerster Gewalt, bis ich sie verlor und er sich an der blutigen Stelle einnisten konnte, an der sie sich befunden hatten. Ich brauche noch heute ein eigenes Zimmer, wenn ich überleben will, dachte ich und Uwe säuselte, dass er nie eine Frau so sehr geliebt habe, wie seine Melli. Uns trifft keine Schuld, sagte er und ich stellte mir vor, wie er im selben Augenblick seine Hände in den Taschen des roten Motivmorgenmantels vergrub. Dann sagte er es ein weiteres Mal: Mich und Melli trifft keine Schuld. 

Unsere erste Unterhaltung hatten wir sechs Tage zuvor geführt; es war der Tag, an dem es zu regnen begann. Wir hatten nicht einmal Namen ausgetauscht, da musste er sofort von seiner Melli erzählen, einer ehemaligen Schülerin, für die er alles, wie er mir mehrere Male versicherte, wirklich alles, sogar die Schule, aufgegeben hatte. Ich erfuhr also, dass wir uns nicht nur das Zimmer, sondern auch den Lehrberuf teilten. Melli war seine Schülerin. Er, Uwe, konstatierte ich, hat tatsächlich mit ihr, dieser minderjährigen Melli, eine sexuelle Beziehung geführt. 

Einige Meter vor uns ging eine Frau, die sich am Dienstag als Renate vorgestellt hatte und von der wir wussten, dass sie ebenfalls Lehrerin war. In den Gruppensitzungen behielt sich Renate vor, wenig zu sprechen, und außerhalb der Sitzungen noch weniger. Renate drehte sich um, als hätte sie gespürt, dass ich sie beobachtete, erkannte Uwe in seinem lächerlichen Morgenmantel, wendete sich schnell ab und verließ den Weg, um mit schmatzenden Schritten hinter einer dichten Hecke zu verschwinden. 

Ich wollte das Gespräch auf die Zimmerproblematik lenken, wusste jedoch nicht, wie ich strategisch am raffiniertesten vorgehen sollte. Wir mussten immer wieder stehen bleiben, weil Uwe Dreck von seinen Schuhen klopfen wollte, indem er einen Fuß gegen den anderen schlug – dabei hatten wir nicht einmal die Hälfte der Schlammpromenade hinter uns gebracht. Er war eigentlich Pianist, das betonte er immer. Überhaupt schien es, als habe es neben seiner Melli für Uwe nichts Erbaulicheres gegeben als die Tatsache, dass er irgendwann einmal Konzertpianist gewesen war. Er hat sich ausschließlich mit der Vorstellung über Wasser gehalten, dass Didaktikprofessoren, wie er sagte, bei weitem perverser sind, als er es war, weil sie erst Musiker, dann Lehrer und am Ende Professoren wurden. Ein Abstieg, ein Scheitern, das weit dramatischer sei als sein eigenes, wie er sagte. Ich allerdings – und dieser Gedanke war eine einzige Ungeheuerlichkeit – hätte kein Verständnis von Kunst oder genauer gesagt von Musik, sagte Uwe einmal, als wir von unserem Zimmer zum sogenannten Gemeinschaftsraum gingen. Dafür bräuchte ich mich auch nicht zu schämen, denn ich hätte eben nicht Musik, sondern nur Musik auf Lehramt studiert, und das seien völlig unterschiedliche Dinge, wie er mir versicherte.

Mir wurde klar, dass es keinen weiteren Tag mit Uwe geben durfte; mit Uwe, dem Gesundheitsvernichter, der unentwegt davon sprach, dass es in dieser Welt keinen Platz für ihn und seine Melli gab, dabei aber auf niederträchtigste Weise ignorierte, dass er mir meinen Freiraum nahm und täglich dafür sorgte, dass ich um meine Gesundheit fürchtete. 

Es waren bereits sechs gemeinsame Nächte mit Uwe gewesen und ich fragte mich, wann es soweit wäre, dass sich seine degenerierte Borniertheit auf mich übertrug. Ich befürchtete, am Ende meiner Zeit in W. nicht gesünder, sondern vielmehr gestörter zu sein. Uwe verstand nicht, dass ihn eine besondere Schwere der Schuld traf, dass er eine perverse Musikergeilheit kultivierte – wie sie schon Bach befallen hatte –, die schließlich in der unerhörten Beziehung zu seiner Schülerin Melli zur Blüte kam. 

Ich habe Jonas Kerschke immerhin nur geschlagen, dachte ich, als eine mir unbekannte Frau unseren Weg kreuzte, die zwei mit Ästen und Blättern gefüllte Einkaufstüten trug und unablässig den Matsch unter sich beschimpfte. Jonas Kerschke zu schlagen war mir als die einzig annehmbare Strafe für sein dauerndes Stören im Unterricht erschienen. Aber ich bin nicht so pervers wie Uwe, dachte ich; wie Uwe, der dachte, dass er nicht so pervers wie die Musiker war, die Professoren wurden. Unter keinen Umständen durfte ich den Kampf um das Zimmer aufgeben, wenn der Aufenthalt in W. nicht völlig umsonst gewesen sein sollte. Der Aufenthalt in W. darf nicht umsonst gewesen sein, dachte ich. Wenn Uwe mich genauso scheinheilig in die Knie zwingt, wie er diese Melli in die Knie gezwungen hatte, würde es nicht lange dauern und ich wäre so ein Uweartiger, dachte ich. Uwe würde ein Zimmer mit Aussicht auf den Schlammpark niemals hergeben, und deswegen würde ich mich in einen Uweartigen verwandeln, nur weil ich Jonas Kerschke geschlagen hatte, weil dieser noch viel kranker war als Uwe es je hätte sein können, weil Jonas Kerschkes sadistische Perversität eine noch viel entschlossenere Reaktion verlangte als Uwes banale, sexuelle Perversität sie je verlangt hatte. 

Wir erreichten das Ende der Strecke, drehten um und gingen auf der anderen Seite wieder zurück. Hinter den Tannen ragte das herrschaftliche Stationsgebäude auf, dem in der Informationsbroschüre Hotelcharakter bescheinigt wurde. Nicht weit von uns kam Renate mit zerzausten Haaren wieder aus den Büschen hervor. Dann stellte sie sich unter einen breiten Baum und stemmte ihren Rücken gegen den Stamm, als hoffte sie, mit dem Baum eins werden zu können, wenn sie sich nur nahe genug an ihn drückte. Ihre Schuhe versanken ein wenig zwischen den breiten Wurzeln und ich fragte mich, ob das Blut, das in Uwes Körper zirkulierte, womöglich ebenfalls von dunkelbrauner Farbe war. Als Renate uns sah, schloss sie die Augen, berührte mit den Fingerkuppen die Borke und atmete ein und aus. 

Stefan EWALD, geboren 1987, studierte Freie Kunst, Neue Musik und Philosophie unter anderem an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und der Universität der Künste Berlin. Er lebt in Berlin. 

Dieser Text erscheint online als Teil des GYM#2. Die Printausgabe mit weiteren Texten erscheint am 1. Mai 2021.

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